Renate Haimerl-Brosch

Schwebende Manufakturen im Grenzland

Was steckt hinter den Dingen? Oder was ist es, was die Welt im Innersten zusammenhält? Um das herauszufinden, geht die Künstlerin Renate Haimerl-Brosch mitunter Wagnisse ein. Das der Provokation, der offenen Kontroverse. Zum Beispiel wenn sie in einer hellblauen afghanischen Original-Burka an einem heißen Sommertag durch Regensburg spaziert. Es ist ihre Einladung an das Publikum zur Kommunikation, zum Dialog. Das Phantastische daran ist: die Performance funktioniert. Die Frau in der Burka setzt tatsächlich bei ihren zufälligen Begegnungen Gedankenprozesse frei, eröffnet allein durch ihr Dasein eine eigene Kommunikationsebene. Der Dialog mit möglichen Risiken und Nebenwirkungen ist eröffnet. Eine unauffällige Videokamera war stets dabei.

Am Anfang war es total beklemmend. Ich habe mich zunächst nackt gefühlt, schutzlos. Dann stellte ich mich auf die Seite und beobachtete, wie reagieren die Leute: Männer kamen auf mich zu und nahmen ihre Augen nicht mehr weg. Bei einer normalen Straßenbegegnung schauen sie irgendwann fort. Jetzt suchten sie den Blickkontakt, obwohl sie fast nichts sehen konnten. Nach einiger Zeit merkte ich, mich sieht ja keiner ... es war so heiß, ich knöpfte mich unter der Burka auf, streckte den Leuten die Zunge raus und realisierte, mich sieht kein Aas. Die Burka wurde zum totalen Schutz ... bis dieser alte Mann mit dem bedrohlich erhobenen Stock auf mich zukam.“

Wie eine gelungene Performance Gedankenprozesse in Bewegung bringt, die inszenierte Provokation nur als Hilfsmittel dient, um die Welt neu wahrzunehmen, wird im zweiten Schritt der Aktionskunst deutlich: In einem Guckkasten, der freischwebend von der Decke des Ausstellungsraums baumelt, findet sich die Videoinstallation "Geborgte Fremdheit" wieder, die den Betrachter zum Voyeur macht: Peepshow. Raffinierterweise müssen die Besucher auf ein kleines Podest steigen, um den Blick in den Guckkasten zu riskieren.

Impulse von Beuys

Renate Haimerl-Brosch verlässt mit ihrer Kunst des Bilderschaffens standardisierte Wege und spürt Lebensentwürfen nach. Der „erweiterte Kunstbegriff" von Joseph Beuys und seine Konzeption der "Sozialen Plastik" gaben der künstlerischen Grenzgängerin wichtige Impulse. Ihre Arbeiten, ob Installationen, Zeichnungen, Objekte oder Aktionen, setzen sich immer mit Menschen auseinander und mit gesellschaftlichen Phänomenen. So ist es ganz natürlich, dass sie für das erste Künstler-Symposion im eigenen Haus in Neukirchen das Thema fand: "Leben auf dem Dorf: gestern, heute, morgen." Es ist der Versuch, ein Bewusstsein für das zu bekommen, was um Menschen herum ist. Die bewusste Wahrnehmung von Natur, von Handwerk, von Zeit.

Wege aus dem Bayerwald

Die bodenständigen Eltern mit dem soliden Schuhgeschäft in Neukirchen im Bayerwald erkannten früh, dass die dritte ihrer vier Töchter anders war. Die 1954 geborene Renate formte und knetete die Dinge des Alltags schon früh zu phantastischen Figuren. Das blieb auch so, als die Spätentwicklerin mit den geschickten Händen und der reichen Phantasie ins Alter der Berufswahl kam. Etwas Kunsthandwerkliches war denkbar, aber wie sieht der Weg dahin aus? Welche Ausbildung war möglich? Fragen, für die es im kleinen Dorf im Bayerwald keine Adresse gab. Und die schüchterne Tochter schickte sich. Sie orientierte sich am Vorbild und dem, was andere junge Frauen machten. Etwas mit Kindern, eine pädagogische Ausbildung!

Es wurde ein mühseliger Weg. Inklusive langer Zugfahrten, Internatsaufenthalten und Schulwechsel, denn die Wege aus dem Bayerwald sind lang und steinig. Mit der ihr eigenen Beharrlichkeit hielt Renate durch, um nach dem Abschluss festzustellen, die Arbeit mit Kleinkindern ist nicht ihr Ding. Sie lernte weiter. Fachabitur, Studium der Sozialpädagogik plus ein paar Semester Kunsterziehung. Da war sie längst in Regensburg und experimentierte mit weichen und festen Stoffen. Diese fügten sich zu Marionetten oder Moriskentänzern aus Ton und Stein, die ihre Käufer fanden.

Reisen und Kulturmanagement

Wie Zeitläufte und individuelle Suchprozesse mitunter auf das Schönste zusammentreffen, zeigt sich in vielen Biografien der ersten Nachkriegsgeneration. So auch bei Renate Haimerl-Brosch. Sie setzte in den achtziger Jahren den Aufbruch aus der kulturellen und sozialen Enge des Bayerwalds durch großräumige Bewegungen fort. Zunächst mit der Schwester, dann mit dem Lebenspartner bereiste sie Länder in Afrika, Asien, Mittelamerika und dem Nahen Osten.

Immer mal wieder, wenn es Zeit war aufzutanken, kehrt sie nach Regensburg zurück und dockte neu an. "Parasol", der Verein für angewandte Kultur, der sich 1983 in Regensburg gründete, war so eine Station:
"Kultur verstehen wir als umfassenden Strukturzusammenhang menschlichen Lebens. In unserem Verständnis wird Kultur durch den Menschen und seine innerhalb seines gesellschaftlichen Umfeldes geprägten Vorstellungen entwickelt, gestaltet, umgebaut, aufgebaut und angewendet. "

Gemäß der Standortbestimmung klinkte sich Renate dort ein, wo es nötig war, um einen autonomen Kulturbetrieb aufzubauen. Ais Geschäftsführerin, Kursleiterin, Gestalterin. Die Bahnhofsgaststätte in Bad Abbach wurde zum autonomen Tagungshaus umgekrempelt, Renate machte ihren Wirteschein bei der Industrie- und Handelskammer, ein Kurs- und Fortbildungsprogramm etablierte sich, freie Initiativen und Interessengruppen zogen ein. "Kulturmanagement" im Praxistest. Befriedigende Jahre, aber auch aufreibendes Engagement bis zur körperlichen Erschöpfung.

Es fügte sich, dass die Geburt der Tochter Vera Zeit zum Luftholen gab. Die Rückschau fällt im Einverständnis aus:
Ja, es war eine gute Zeit...Wir waren total idealistisch und begnügten uns mit wenig Geld. Nun bin ich es gewohnt mit wenig auszukommen ... Geld ist ein Zeichen von Anerkennung für das, was man von mir will. Aber Sachen machen nur für Geld, das könnte ich nicht. Ich gehe gerne mit Leuten um und bringe dort meine Ideen ein."

Das Einzelne im Ganzen

Wie ist die Materialisierung von Zeit in einem gotischen Gewölbe, wie der kleinen Sigismundkapelle, zu verwirklichen? Mit der Installation "Zeitzelle" gelingt Renate Haimerl-Brosch 2007 hier ein besonderer Wurf. Im Dreiklang von Licht, Sound und Videoeffekten präsentiert sie in der begehbaren Zelle mit den graugrün gewachsten Wänden Beweisstücke für die Wirklichkeit einer von Traum und Realität konjugierenden Welt. Die Grenzen zwischen gestern und heute verwischen dabei ebenso wie das Einzelne im Ganzen aufgeht.

Es waren meine fünfzig Jahre, aber gleichzeitig auch fünfzig Jahre Leben. Da waren Gegenstände wie das Kästchen mit den vielen kleinen Schuhschachteln, die Kommunionskerze, der erste Apple-Computer, Puder und Nivea-Creme und die vielen Reagenzgläser mit den Düften. Das Licht hat geblinkt wie einen Augenblick, man hat die Atmung gehört.“

Im Geschwindschritt durchmisst Renate die letzten zehn Jahre. Es sind aufreibende wie fruchtbare Jahre, von denen eine umfängliche Ausstellungsliste zeugt. Häufig war die Videokamera dabei, deren Bilder das Rohmaterial für Videoinstallationen Iieferte. Wie für "Die unerträgliche Leichtigkeit", die sie in Loschwitz/ Dresden präsentierte. Der einem Roman von Milan Kundera entlehnte Titel der Kunstaktion bestand aus einem Leuchter aus weißen Federn und Hühnerkrallen über einem opulenten Buffet aus Eiern, Hühnerteilen, Gips und Papier, verstärkt mit Videobildern.

Mich regen unterschiedliche Sachen auf ... das kann politisch sein, das können Verhaltensweisen sein, wie der dekadente Umgang des Menschen mit der Natur. Mit dem, was die Natur gibt. Die Massentierhaltung und die Massenschlachtung von Hühnern stehen in krassem Gegensatz zu meinen Kindheitserfahrungen. Im Hühnerhof meiner Mutter gab es immer ein Huhn, das besonders nett war und sich streicheln ließ. Und in jedem Jahr wurde der Hühnerstall gekalkt. Als ich das opulente barocke Mahl bereitete, beabsichtigte ich mit den Hühnerkrallen keinen besonderen Effekt, sondern einen Anstoß zum Nachdenken. Die Entfremdung des Menschen von den Naturgesetzen. "

Der Leuchter "Erntekrone" aus weißen Federn und Hühnerkrallen vermittelte diese Botschaft und wurde zum Blickfang in etlichen Ausstellungen. Im Haus der Kunst in München ebenso wie in den Ausstellungsräumen des Kunst- und Gewerbevereins in Regensburg. Ganz ähnlich ist es mit "Himmelsreisig", einer fragilen Installation aus einem hohen Eisengestell, Hölzern und Wachs. Es ist nur folgerichtig, dass diese Installation aus Alltagsstoffen, die das uralte Memento-Mord-Motiv aufgreift und neu variiert, den Weg in die Kirche auf dem Adlersberg fand.

Text: Waltraud Bierwirth | Fotografie: Rose Heuberger

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