Paul Schinner

Jedes Kunstwerk hat eine eigene Aura

Was hält einen Künstler an diesem Ort? Nabburg, knapp über sechstausend Einwohner im Naturpark Oberpfälzer Wald, beidseits der Naab. Hoch oben auf dem lang gestreckten Bergrücken, fünfundvierzig Meter über dem Flussband, liegt die Altstadt. Mittendrin, und doch etwas abseits an die alte Stadtmauer geschmiegt, steht das Haus von Paul und Theresia Schinner.

Das Haus fällt auf: zurückgezogen von der Straßenfront, mit einem breiten vorgela­gerten Garten und dem dominierenden wuchtigen Steinturm im Hintergrund, der das Haus kleiner macht. Am Eingang zum Garten, dort, wo ein breiter Zugangsweg den üppigen Rasenteppich quert, informiert eine unauffällige Tafel über Geschichtliches: 1448 baute der Regensburger Domdechant Nikolaus von Kinsberg dieses Haus, den Dechant-Hof. Er nutzte "geschmackvoll" die bereits vorhandene Stadtmauer und den eigenständigen Dechant-Turm.

Sonnenlicht fällt im Eingang auf alte, graue Steinquader. Zwei kurze Schritte und der Besucher steht in dem hohen Vorraum, der eigentlich ein Vestibül ist, um Bittsteller zu empfangen. So gehörte es sich damals für einen katholischen Domherrn, der ab 1445 bis zu seinem Tode 1473 Pfarrer von Nabburg/Perschen war.

Mehr als fünfhundert Jahre später ist der einstige Dechant-Hof ein säkulares Künstlerhaus. Und kein Zufall ist es, dass mit den heutigen Besitzern wieder sichtbar wurde, dass himmlische Heerscharen, in Medaillons gefasst, einst die Decke zierten. 1970 erwarben die Schinners das Geistliche Haus in Nabburg. Im Jahr darauf zogen sie ein, mit den beiden Töchtern und Theresias Mutter. Zwei Zimmer und die Küche waren provisorisch hergerichtet, aber für viele Jahre sollte es ein Leben in einer Dauerbaustelle werden.

Paul Schinner, gerade mal dreißig Jahre alt, war mit dem Diplom des Meister­schülers der Berliner Hochschule für Bildende Künste, endgültig in die Oberpfalz zurückgekehrt.

Die dreidimensionale Welt

Mit der Übernahme des historischen Dechant-Hofes in Nabburg begann für die Familie Schinner ein Haus-Abenteuer, das sie bis heute nicht loslässt. Natürlich guckten die Nabburger vor fast vier Jahrzehnten genau hin, wer da neu in ihre Stadt kam und "gleich ein ganzes Eck' wegkaufte." Der Ausbau des Hauses zu einem Kunstwerk, in dem Altes und Neues symbiotisch zusammenfanden, entwickelte sich peu a peu. So wie Zeit und Geld den Schinners zur Verfügung standen. Den Anfang markierte harte Arbeit. Bis zu zwanzig Farb- und Putzschichten, in Jahrhunderten gewachsen, mussten abgetragen, Tonnen von altem Schutt hinausgeschafft und die Biographie des Hauses erforscht werden.

Theresia Schinner: Es war über Jahrhunderte ein Geistliches Haus. Nach Nikolaus von Kinsberg, an den ein Epitaph im Kreuzgang des Regensburger Doms erinnert, blieb das Haus auch nach der Reformation und dem Religionswechsel in geistlicher Hand. Es zogen Lutheraner, Calvinisten und wieder Katholiken ein. Bis zur Säkularisation, dann stand es vermutlich leer und verfiel. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erwarb es der letzte Besitzer, der es selbst nicht nutzte, sondern herrichtete und an Nabburger Familien vermietete. Bis auf einen Raum, der für einen Nachkommen des Besitzers, der Bischof in Afrika war, stets reserviert war.

Es dauerte viele Jahre, bis aus dem alten Dechant-Hof am Unteren Markt ein Künstler­haus wurde, in dem sich Altes harmonisch in Neues einfügte. Jahre, in denen an die zwei Tonnen Putz heruntergeschlagen, fingerdicke Farbschichten mit dem Stemmeisen abgezogen, morsche Balken ausgetauscht und Decken mit kunstvollen Stuckar­beiten freigelegt wurden.

Was das Haus an Schätzen barg, gab es oftmals überraschend preis.

Paul Schinner: Da denkt man am Anfang, da ist ein grau-blauer Deckenanstrich. Wir rissen eine nachträglich eingezogene Mauer ab und sahen an der Decke plötzlich den Engelskopf. Da musste also irgendwas Verborgenes sein, das ist ja logisch. Dann habe ich also das Kratzen angefangen, mit einem ganz feinen Spachtel habe ich bis zu elf Schichten Farbe abgetragen, bis ich auf den Grund kam. Und dann sitzt da plötzlich der Petrus .In einem anderen verdeckten Medaillon entdeckten wir die Marienkrönung, beziehungsweise das, was von den Fresken aus dem frühen 18. Jahrhundert übrig geblieben war.

In diesen Jahren der Neugestaltung des alten Dechant-Hofes beherrscht auch die drei­dimensionale Welt der Plastik das künstlerische Schaffen von Paul Schinner. Bedeu­tende öffentliche Ankäufe bezeugen seine Erfolge als Bildhauer. Gleichzeitig bedauert Reiner R. Schmidt, Kunsthistoriker und langjähriger Wegbegleiter: Zwar versucht Schinner ein Höchstmaß an Sensibilität in sein plastisches Schaffen mit einfließen zu lassen, aber die iIIusionäre Traumwelt der freien zeichnerischen Kreativität scheint verloren. Die naturgegebene Schwere des Skulpturalen, ihre Materialität, verschließt sich einem spontanen, ausdrucksstarken Schaffenswillen. Als seinen Lösungsweg findet er hier die Überwindung der klassischen Formensprache und präzisen Material­behandlung durch kompositorische lronie. Und fast entschuldigend merkt Schmidt an:

Allerdings steht dem inneren Drang zum freien plastischen Schaffen in der Realität die Aufgabenstellung baugebundener Einpassung entgegen.

Diesen Zwang zum Einpassen, aufgrund von typographischen Gegebenheiten oder Vorgaben von Architekten oder öffentlichen Auftraggebern, ist eine beharrliche Konstante, wann immer es um "Kunst am Bau" geht.

1987 packt Paul Schinner noch einmal die Koffer, um sich von der Nabburger Idylle, Haus und Familie zurückzuziehen. Für ein halbes Jahr bezieht er mitten im quirligen Paris an der Seine ein Studio, das die "Cité Internationale des Arts" für Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt bereithält. Ein Stipendium des Freistaats Bayern macht es möglich und für Paul Schinner wird der Paris-Aufenthalt zum Glücksfall.

Reiner R. Schmidt: Die Begegnung mit der Kunsthauptstadt der Klassischen Moderne prägt innerhalb kürzester Zeit Paul Schinners Arbeit; fast befreiend wirkt der neue Schaffensraum auf das Oeuvre. Relativ schnell tritt das plastische Schaffen in den Hintergrund; die freie Kreativität der Zeichnungen gewinnt ihren autonomen Platz zurück. In großflächigen, dynamischen Arbeiten schließt Paul Schinner dort an, wo er 1967 dieses Werk unterbrochen hatte. Der malerische Prozess gewinnt im künstleri­schen Schaffen Schinners wieder die ihm zustehende Autonomie.

Fast en passant war Schinner dieses Stipendium zugewachsen, für das eine Eigenbe­werbung nicht möglich ist. "Wenn Du willst, schlage ich Dich vor", lautete das Angebot eines Kulturfunktionärs nach einer Ausstellungseröffnung. Klar wollte er und rechnete sich wenig Chancen im Gutachterausschuss des Ministeriums aus, weil es nur zwei Plätze gab und der Andrang mit vierzig Bewerbern reichlich war.

Was in Paris wieder begann und sich im Nabburger Atelier fortsetzte, präsentierte Schin­ner 1990 in einer Ausstellung im Oberpfälzer Künstlerhaus in Schwandorf.

Reiner R. Schmidt: Diese Bilder atmen den Geist der kalligraphischen Malerei der Nach­kriegszeit. Vor meditativem Hintergrund entsteht ein raues Liniengeflecht, mal gestisch dynamisch; dann engmaschig, sich kreuzend oder dramatisch verdichtend. Mit diesen expressiven Arbeiten formuliert Paul Schinner seine eigenständige Bildwelt; ein Psycho­gramm subjektiver Empfindungen.

Die erste Skulptur

Welche Berufsperspektiven hat ein ambitionierter vierzehnjähriger Bub, der 1951 die achtjährige Volksschule in Windischeschenbach in der Oberpfalz verlässt?

Da gibt es die Porzellanfabrik am Ort, in der der ältere Cousin als Porzellanmaler arbei­tet. Und zu dieser Malerei zog es den Vierzehnjährigen. Das scheiterte am fehlenden Lehrstellenplatz. Dann mach' halt Ziselierer schlug der praktische Firmpate vor, was Paul eine Grundausbildung einbrachte, die ihm viel später in der Bildhauerei zugute kam. Wenn der Cousin nicht einige Jahre später von der Porzellanfabrik zum Studium nach Nürnberg delegiert worden wäre, um Porzellandesigner zu werden, hätte sich Paul wahrscheinlich kaum die "Die Malerei des Abendlandes" gekauft. Da war er achtzehn und der Ehrgeiz groß. Nürnberg und die Akademie mit dem Cousin lockten. Er schaffte die Aufnahmeprüfung, aber ein Brotberuf war dringender: Studium der Gold- und Silber­schmiedekunst.

Mit dem Selbstvertrauen, das einhergeht mit dem Glauben an die Unbesiegbarkeit des Sechsundzwanzigjährigen, klappte der Sprung in das Studium der Bildhauerei an der Hochschule für bildende Künste in Berlin. Paul Schinner bewarb sich mit einer Eisens­kulptur, die er aus Eisenabfällen zusammengefügt hatte. Der große Eisenplastiker Hans Uhlmann, Professor in Berlin, erkannte das Besondere und Paul war Kunststudent. Mit dem Meisterschülerdiplom verließ er drei Jahre später die Hochschule.

Die etwa fünfzig Zentimeter große Skulptur steht in Nabburg heute etwas angestaubt unter dem riesigen Ateliertisch. Unverkäuflich!

Im Laufe der Jahre ist mein Urteilsvermögen gewachsen. Früher, in der Anfangszeit, da ließ ich so manches durchgehen. Heute brauche ich zu den Dingen Abstand. Es gibt Arbeiten im zeichnerischen Bereich, die werden innerhalb von ein paar Minuten fertig. Die sind sehr selten, aber da kann ich gleich sagen: das stimmt.

Dann gibt es wieder Arbeiten, die muss ich liegen lassen. Abstand gewinnen, um es beurteilen zu können. Ich weiß, wo es hingeht. Aber irgendwann ist das Bild so weit, dass es mir die Vorgaben macht. Es gibt eine Eigengesetzlichkeit im Entstehungspro­zess, gegen die man nicht arbeiten kann.

 

In Deutschland wird meist strikt getrennt. Kunstgewerbe steht für Gebrauchsgegenstände, schöne Gebrauchsgegenstände, aber diese gelten nicht als Kunst. Sie werden als beliebig angesehen. In Amerika hat das Kunstgewerbliche nicht diesen Ruf der Beliebigkeit, es wird nicht so krass interpretiert: hier die Kunst, dort das Kunstgewer­be.

In Lehrgängen und Kursen eignet sie sich in den 90-er Jahren das Rüstzeug an, das junge Künstler in den Akademien lernen. Sie erkennt, wo ihre Stärken liegen, setzt sich mit unterschiedlichen Materialien auseinander und erarbeitet sich ihr Thema:

Figürliches Gestalten. Den künstlerischen Durchbruch zu ihrem Schwerpunktthema das sie bis heute beschäftigt, erschließt sich ihr durch Professor Dieter Chrumbiegel von der Fachhochschule für Gestaltung in Krefeld. Der Kurs in der Abgeschiedenheit der Eifel, den sie als den wichtigsten für ihre künftigen Arbeiten ansieht, bringt ihr Gewissheit.

Von da an habe ich mich in meinen Arbeiten nur mit Menschen beschäf­tigt. Körper, Köpfe, Fragmente.

Als sich im Herbst 1987 der Neue Kunstverein Regensburg gründet, stößt Ellen Ashoff­Kranz schnell dazu. Sie übernimmt das Amt der 2. Vorsitzenden und bringt sich mit ihrem Organisationstalent ein.

Meine Motivation am Anfang war ganz praktischer Art. Da ich nicht Kunst studiert habe, wollte ich zunächst einmal herausfinden, wie sind die Abläufe, wie läuft das mit Ausstellungen, welche Möglichkeiten gibt es, um selbst auszustellen.

1992, sieben Jahren nach der Einrichtung ihrer eigenen Werkstatt, präsentiert sie im Rahmen einer Gemeinschaftsausstellung von zehn Künstlern des Neuen Kunst­vereins eigene Arbeiten im Stadtmuseum Amberg. Jahr um Jahr beteiligte sie sich seitdem mit ihren Skulpturen an Gemeinschaftsausstellungen in Museen in Regens­burg und der Oberpfalz, in öffentlichen Kunsträumen und privaten Galerien.

Wie sich ihre figurative Keramik in den zwanzig Jahren ihres Schaffens entwickelte, die Köpfe und Figuren an Ausdruckskraft gewannen und unverwechselbar wurden, ist in ihrem eingewachsenen Garten und der Werkstatt, die nicht zur Garage wurde, zu bestaunen. Ellen Ashoff-Kranz ist bei ihrer Gratwanderung zwischen Kunstgewerbe und Kunst Vielfarbiges gelungen.

Die Leidenschaft des Sammlers

Wenn Paul Schinner sich heute mit einer neuen Arbeit beschäftigt, aus der Ahnung ein Entwurf wird, führt ihn der Weg zielgenau ins Atelier zu einem Schrank, der einen Teil seiner Sammlung birgt.

"Jedes Kunstwerk von Qualität hat eine eigene Aura, die sich mitteilt. Ob das in der Malerei, in der Bildhauerei, beim Zeichnen oder auch in der Fotografie ist. Es kann zum Beispiel ein Engelsköpfchen aus dem Barock oder eine afrikanische Maske sein, die ich in die Hand nehme. Es hat nichts mit meiner eigenen geplanten Arbeit zu tun, sondern mir geht es um die Qualität des Werks, das ich da in der Hand habe. Dieser Aura spüre ich nach."

Die Leidenschaft des Sammlers wuchs Paul Schinner in Nürnberg zu. Den Grundstein legte der Nürnberger Professor, der alte Möbel schätzte und den Blick des jungen Mannes schärfte. Das war sein wichtigstes Vermächtnis, als Paul Nürnberg verließ, um in Berlin das Bildhauern zu lernen. Neben dem Faible für Möbel aus verschiedenen Stilepochen, galt sein Interesse den Arbeiten seiner Berufskollegen: Zeichnungen, Skulpturen und afrikanischer Kunst. Werke großer Künstler aus vielen Ländern und der Region wanderten über die Jahre in sein Atelier. In jungen Jahren nahm er dafür Einschränkungen und beschwerliche Jobs in Kauf. Und manchmal dauerte es seine Zeit, bis das begehrte Stück sein eigen war.

"Bei meinen Sammlungen ging es mir nie um eventuelle Wertsteigerungen. Es ging mir stets um die Qualität der Arbeit. Wenn ich ein Kunstwerk sehe, dann kann ich sagen, das passt oder passt nicht. Ob das in der Malerei, in der Bildhauerei, beim Zeichnen oder auch in der Fotografie ist. Du weißt, das muss so und nicht anders sein.

Text: Waltraud Bierwirth | Fotografie: Rose Heuberger

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